Cloud Native - zwischen Wunsch und Wirklichkeit

- Deepshore

Für ein eigenes Digitalministerium hat es bei der Ampel doch nicht gereicht. Ob die Digitalisierung mit einem eigenen Ministerium besser und schneller vorangehen würde, bleibt ohnehin fraglich. Prozesse verbessern oder beschleunigen sich in der Regel nicht dadurch, dass ihnen eine eigenständige Bürokratie gewidmet wird. Gerade IT-Technologie entwickelt sich und ihre IT-Infrastrukturen auch unter einem Teilzeit-Digitalminister immer mehr in Richtung Cloud Services. Das zeigen die aktuellen Zahlen der Information Services Group (ISG) für den Cloud-Markt in der EMEA-Region (Europa, Mittlerer Osten und Afrika). Im dritten Quartal 2021 ist laut dieser Studie der Marktanteil von Cloud-Services erstmals mit 3,3 Milliarden US-Dollar höher als der Markt für Managed Services (3,2 Milliarden US-Dollar). Etwas relativieren muss man diese Nachricht natürlich, da uns heute die Tech-Konzerne der 90er-Jahre ja nahezu alles als „Cloud“ verkaufen, was mit IT zu tun hat. Aber dennoch kann der allgemeine Trend nicht geleugnet werden.
In diesem Spannungsfeld liefert eine kürzlich veröffentlichte ISG-Studie zum Status quo des Cloud-Native-Marktes in Deutschland interessante Informationen, die Rückschlüsse auf den Zustand der Digitalisierung in unserem Land zulassen. Die gute Nachricht ist, dass nur drei Prozent der Befragten angegeben haben, dass Cloud-Native-Ansätze für ihr Unternehmen nicht infrage kommen. Diesen drei Prozent kann man für die Zukunft nur Glück wünschen und in deren Sinne hoffen, dass sie diese Einschätzung möglichst schnell überdenken, und zwar bevor ihre Unternehmen vom Markt verschwunden sind.
Interessant ist auch der Aspekt der Unternehmensziele im Kontext der jeweiligen Cloudstrategie. Da springt ins Auge, dass 51 Prozent der Befragten eine IT-Kostenreduktion als wichtiges Ziel benannt haben. Es hat sich offenbar noch nicht überall herumgesprochen, dass sich die Kosten bei einer echten Cloudstrategie im Normalfall ganz sicher nicht verringern werden. Wenn man eine weitere Zahl aus der Studie neben diese Aussage stellt, lässt sich das jedoch anscheinend teilweise erklären. Denn 53 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass strategische IT-Entscheidungen vorwiegend von Nicht-IT-Bereichen getroffen werden. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, wundert es nicht, dass die weitverbreitete Fehlannahme einer generellen Kostenersparnis durch eine Cloud-Strategie bzw. durch die Nutzung von Cloudtechnologie in den Köpfen mancher Unternehmenslenker verankert ist. Generell scheint sich nach wie vor der Blick auf die IT als „Kostenblock“ und nicht als „Enabler“ erstaunlich hartnäckig zu halten. Dass die potenzielle Erschließung neuer Geschäftsmodelle bei den Cloudzielen mit nur 19 Prozent zu Buche schlagen, ist in diesem Lichte meines Erachtens selbsterklärend und eine recht ernüchternde Zahl. Da kann Deutschland noch deutlich besser werden.
Dass es im grundlegenden Verständnis einer sinnhaften Cloudstrategie auch noch Lücken gibt, zeigen zwei weitere Zahlen der Studie. Auf die Frage nach dem Ansatz der Umstellung von einer monolithischen App-Entwicklung hin zur Cloud-nativen App-Entwicklung gaben 44 Prozent der Befragten an, IT-Lösungen zunächst durch „Refactoring“, also kleinere Softwareanpassungen, in die Cloud zu überführen. In den allermeisten Fällen dürfte es sich dabei um ein sogenanntes „Lift & Shift“-Verfahren handeln, das Applikationen quasi unverändert in eine Cloud-Infrastruktur transportiert. Diesem Ansatz ist mit großer Skepsis zu begegnen, denn in der Regel entstehen dabei für Unternehmen keine echten Mehrwerte. Das Gegenteil ist sogar der Fall, denn man begibt sich ‒ je nach Komplexität und Volumen ‒ in ein massives Abhängigkeitsverhältnis zum Cloudprovider. Häufig kann nur der CIO einen Vorteil für sich verbuchen, weil er einen Bonus einfordern kann, da nun das Label „Cloud“ auf der alten Technologie steht (mehr dazu hier: Wie gehen Sie in die Cloud?).
Auch diese 44 Prozent „Refactoring“ lassen sich besser verstehen, wenn man die Antworten der Studienteilnehmer auf die Frage „Was verstehen sie unter dem Begriff Cloud Native?“ betrachtet. Über 70 Prozent der Befragten liegen mit der Definition leider komplett daneben. Nimmt man gleichzeitig an, dass dieser befragte Personenkreis an den strategischen IT-Entscheidungen des jeweiligen Unternehmens beteiligt ist, lassen sich auch die zuvor genannten Zahlen besser einordnen. Deutsche Unternehmen scheinen also beim Verständnis in Sachen IT-Technologie im Mittel eher suboptimal aufgestellt zu sein. Dass es auch bei der IT-Fachkompetenz Nachholbedarf gibt, zeigt die Einschätzung von über einem Drittel der Befragten: Man könnte weiter sein, wenn genügend Fachpersonal vorhanden wäre. Es bleibt die Frage offen, ob es sich hier um ein Henne-Ei-Problem handelt. Denn es könnte auch sein, dass verkrustete Strukturen und überlebte Kulturen in den Unternehmen IT-Innovationen verhindern. Eine mögliche Folge wäre dann nämlich, dass Unternehmen aus diesen Gründen gar nicht in der Lage sind, die richtigen Mitarbeiter zu rekrutieren.
Neben den fachlichen Lücken gibt es aber einen weiteren sehr wichtigen Aspekt, der mit Sicherheit seinen Teil zur nur zögerlichen Adaption neuer Technologien beiträgt. Denn immerhin sehen 66 Prozent der Unternehmen Sicherheitsbedenken und rechtliche Fragen als große Hürden bei der Nutzung entsprechender Technologien oder Offerten an. Diese Einschätzung ist leider nicht verwunderlich. Es ist seit Jahren so, dass Definition und Anpassung von rechtlichen Rahmenbedingungen mit der Geschwindigkeit der aktuellen technischen Entwicklungen nicht annähernd Schritt halten können. Gute Beispiele für das vollständige Versagen der Politik sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Safe Harbor und dessen Nachfolgeregelung Privacy Shield, die dazu geführt haben, dass ein unauflösbares rechtliches Vakuum entstanden ist. Planungssicherheit für Unternehmen stelle ich mir anders vor.
Aber auch die großen Serviceprovider sorgen selbst immer wieder durch eklatante Sicherheitslücken für Anti-Werbung. Die sich in jüngster Vergangenheit häufenden Nachrichten über die zunehmende Bedrohung durch Hackerangriffe mit Verschlüsselungssoftware sorgen in Kombination mit solchen Meldungen sicherlich auch nicht dafür, dass Entscheider größeres Vertrauen in entsprechende Angebote entwickeln.
Studie belegt: IT-Relevanz von Entscheidern zu gering bewertet
Abstrakter betrachtet, können die Erkenntnisse der Studie folgendermaßen zusammengefasst werden: Deutsche Unternehmen haben die Notwendigkeit einer technischen Erneuerung erkannt und beschäftigen sich auch mit dieser Frage. Alles andere wäre für den Standort Deutschland eine sehr beunruhigende Erkenntnis. Fast ein Viertel der befragten Firmen ist bereits in diesem recht neuen Technologiebereich mit Projekten aktiv. Hier hätte ich persönlich mehr Engagement erwartet. Es wird jedoch ersichtlich, dass der Mangel an Fachpersonal und qualifizierten Mitarbeitern immer noch große Probleme bei der Umsetzung strategischer IT-Ziele darstellt, womit sich diese niedrige Zahl wohl teilweise erklären lässt. Aber technische IT-Erneuerungen scheinen auch durch die Organisationsstrukturen der Unternehmen verlangsamt oder gehemmt zu werden. Deutlich wird das anhand der Selbsteinschätzung von Entscheidungsfindungen auf IT-strategischer Ebene. Offensichtlich wird das durch die Wahrnehmung der Beteiligten, dass nicht IT-Spezialisten, sondern operative Bereiche häufig die Richtung bei strategischen IT-Fragen vorgeben. In Kombination mit der allgegenwärtigen Debatte zur IT-Kostenreduktion wird klar, dass viele Unternehmen und deren Lenker auf diesem Gebiet noch nicht auf Ballhöhe spielen und die Relevanz der IT in einer zunehmend digitalen Welt noch nicht vollständig erfasst haben. Dass Cybersecurity eine immer wichtigere Rolle spielt, dürfte mittlerweile bei jedem angekommen sein. Die Horrornachrichten von Angriffen durch Verschlüsselungssoftware sind nahezu alltäglich geworden. Aber genau die Kombination aus mangelnder Fachkompetenz und der Angst, selbst Opfer eines solchen Angriffes zu werden, lähmen IT-getriebene Innovationen und Veränderungen. Ein Teufelskreis, den man durchbrechen muss, um langfristig nicht abgehängt zu werden.
Fazit
Abschließend muss erneut bemängelt werden, dass quälend langsame und stümperhafte Gesetzgebungsverfahren das Innovationsklima für Unternehmen nicht fördern. Ich persönlich wünsche mir von der Politik endlich zügigere und schlankere Verfahren und den Einsatz von sachkundigen Experten. Im Gegenzug könnte man auch gerne den einen oder anderen Technologie-Lobbyisten vor die Tür setzen.
Informationen zur ISG-Studie können über die ECN (Cloud-Native-Initiativ) bezogen werden: https://www.eurocloudnative.de/isgpulsecheck/

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