KI und ihr Potenzial, neue Realitäten zu erschaffen

- Falk Borgmann

Was passiert da eigentlich gerade? Über ChatGPT und den Einfluss von Sprachmodellen spricht momentan fast jeder. Plötzlich tauchen überall Experten auf, die eine Meinung haben, und offen gestanden kann ich die immer gleichen Fragen und quälenden Diskussionen nur noch schwer ertragen. Dabei sehen vermutlich 99,9% der Bevölkerung nur die Spitze des Eisbergs. Seit dem LLM-Leak von Meta (Facebook) ist, bildlich gesprochen, ein Tsunami in der kleinen, aber weltweit agierenden KI-Tech-Community losgebrochen (siehe auch: https://deepshore.de/knowledge/ki-facebook-leak-open-source-community-fordert-tech-konzerne-heraus). Ich selbst hätte noch vor fünf Jahren diese Innovationskraft der OpenSource-Schwarmintelligenz kaum für möglich gehalten. Damit meine ich explizit nicht die Leistungsfähigkeit von ChatGPT von OpenAI oder die Antwort von Google. Das Potenzial dieser Angebote der großen Konzerne sollte mittlerweile jeder halbwegs informierte Mensch erahnen können. Nein, ich meine das, was aktuell auf Plattformen wie HuggingFace (https://huggingface.co/) passiert und was in der breiten Öffentlichkeit scheinbar unsichtbar ist. Und das, was dort an Innovation sichtbar wird, ist m. E. vollkommen surreal. Man konnte in den letzten drei Monaten eine qualitative Entwicklung beobachten, die mit der Summe des technischen Fortschritts der letzten zehn Jahre in diesem Bereich vergleichbar ist. ChatGPT ist deshalb nur die Spitze des Eisbergs, sozusagen das, was jeder sieht, selbst wenn er die Augen schließt.

Wohin kann diese Entwicklung führen?
Bei dem aktuellen Tempo wird mir schwindelig. Ich gehe davon aus, dass wir es gerade mit dem Potenzial eines echten Game-Changers zu tun haben, der nicht nur die IT, sondern die gesamte Gesellschaft umkrempeln kann. Wenn es im aktuellen Tempo weitergeht, ist nicht auszuschließen, dass das Internet seine eigene Realität erschaffen kann – die dann auch zurück in die reale Welt fließt. D.h. nicht wir beeinflussen den Content im Internet, sondern der Content im Internet nimmt direkten und massiven Einfluss auf jeden von uns bzw. auch auf ganze Gesellschaften. Und zwar deshalb, weil die Nutzung von hervorragenden Modellen so einfach ist, dass diese überall zum Einsatz kommen werden, wo wir mit Sprache oder Schrift arbeiten. Und da im digitalen Raum die Kommunikation der Menschen über Maschinen und somit über „deren“ Sprache läuft, befinden wir uns am zentralen Punkt des Internet-Nervensystems. Informationen, egal ob richtig oder falsch, werden so gut, plausibel und breit gestreut im Netz platziert werden können, dass so gut wie kein Mensch dieser Welt in der Lage sein wird, zu erkennen, ob das mit den Fakten in der realen, nicht-digitalen Welt übereinstimmt. Fiktion und Realität miteinander zu verschmelzen, funktioniert bereits heute in einer Art und Weise, die wirklich beeindruckend ist, und die neuen Modelle/Systeme können hier wie ein Multiplikator wirken. Wäre es denkbar, eine KI zu nutzen, um die KI zu validieren? Ich bin da skeptisch, weil jede Information im Netz auch potenziell als Basis für das Training von neuen Modellen dienen wird. Von daher erwarte ich eher, dass sich große Teile dieses neuen Internet-Systems selbst und ungefiltert mit Informationen füttern. Außerdem wird es ja nicht die eine KI geben, sondern tausende von weltweit verstreuten Modellen, die unmöglich zentral kontrolliert werden können.
Sie denken jetzt, das ist doch Quatsch? Etwas wird doch nicht real, nur weil es im Internet steht? Stellen wir dazu gemeinsam das folgende Gedankenexperiment an: Sie haben einen 100-Euro-Geldschein. Damit können Sie einkaufen gehen. Hat die Ware, die sie dafür kaufen können, wirklich den Wert des grünen Stück Papiers in ihrer Hand? Oder entsteht dessen 100-EUR-Wert nur deshalb, weil ausreichend viele Menschen daran glauben, dass es diesen Wert hat? Und wie groß ist die kritische Masse an Menschen, die etwas glauben müsste, damit dieser Glaube zur Realität wird?

Sollte man KI deshalb regulieren?
Die derzeitige Diskussion um eine Regulierung von KI kann ich aus technischer Sicht nicht nachvollziehen, weil sie irrelevant ist. In Wahrheit ist der Zug für eine Regulierung nämlich schon lange abgefahren – konkret bereits mit Erfindung der KI.
Aber sollte man, wenn es noch möglich wäre, KI regulieren? Ich wäre absolut dafür, schon im Sinne einer demokratischen Grundordnung. Nur leider fehlt mir die Fantasie, wie das umgesetzt werden könnte. Eine EU-Behörde, die neuronale Netze prüft und freigibt? Diesen Vorschlag gibt es tatsächlich. Und er ist so realitätsfern, ja fast kindlich naiv, dass man sich wirklich Sorgen machen muss. Denn er illustriert, wie unwissend und hilflos Politik und Politikberater in diesem informationstechnischen Bereich sind. KI ist im Internet, beziehungsweise das Internet wird die KI sein. Die einzige Möglichkeit, KI zu kontrollieren, wäre, das Internet zu kontrollieren und in letzter Konsequenz zu zensieren. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, wie gut sich das mit dem Demokratieverständnis von uns allen vereinbaren ließe. Selbst wenn wir uns abschotten würden – Länder wie China oder Russland werden sich ganz sicher nicht an unsere Regeln halten. Insofern hat die Demokratie an dieser Stelle einen strategischen Nachteil gegenüber totalitären Systemen, da wir das Tor für Manipulationen und Falschmeldungen nicht schließen können, ohne unsere demokratischen Grundwerte zur Disposition zu stellen.

War es eine gute Idee, die Kernspaltung zu erfinden? War es eine gute Idee, KI zu erfinden? Das kann man beides kontrovers diskutieren. Fakt ist aber: Beide Technologien wurden erfunden und egal, was als Nächstes kommt, diese Tatsache kann man nicht mehr rückgängig machen.

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